Peter Prange
Mein literarisches Credo - 10 Thesen zum historischen Roman
Eigentlich habe ich mich nie besonders für Geschichte interessiert. Was gehen mich die ollen Kamellen an? Nicht im Traum wäre mir deshalb eingefallen, dass ich jemals Autor von historischen Romanen werden könnte. Als ich dann aus der Zeitung erfuhr, dass ich genau das geworden sei – den Titel bekam ich erstmals in einer Rezension zu meinem Roman „Die Philosophin“ verpasst –, rieb ich mir verwundert die Augen: Spinnt jetzt der Rezensent oder spinne ich?
Die nachfolgenden Thesen verstehen sich weder als Begriffsbestimmung noch als Analyse eines literarischen Phänomens. Sie erheben keinen Anspruch auf was auch immer, so wenig wie ich damit irgendetwas beweisen möchte. Sie sind nur ein sehr persönliches, durch und durch subjektives Bekenntnis: warum ich trotz meines mangelhaften Interesses an Geschichte historische Romane schreibe, und zwar mit stetig wachsendem Vergnügen.
1. Ein historischer Roman ist kein Geschichtsbuch.
Und ein Autor von historischen Romanen ist kein Historiker. Beide schildern zwar geschichtliche Ereignisse, doch mit unterschiedlichem Interesse. Während der Historiker versucht, vergangene Zeiten möglichst exakt und wirklichkeitsgetreu zu rekonstruieren, interessiert den Romanautor vor allem die sinnbildhafte Bedeutung, die er in einer bestimmten historischen Situation zu erkennen glaubt. Die Vergegenwärtigung dieses Bedeutungsgehalts einer geschichtlichen Gegebenheit in neuer und eigener Gestalt betrachte ich darum als meine eigentliche Aufgabe. Die historische Realität ist für mich nicht Sinn und Zweck meiner Arbeit, sondern ein Steinbruch: Stoff für einen Roman.
2. Ein historischer Roman ist keine popularisierte Wissenschaft.
Natürlich können historische Romane Bildung vermitteln, und sie tun es in der Regel ja auch. Aber ist das ihr vorrangiger Daseinszweck? Wie jeder Roman ist auch ein historischer Roman vor allem ein Spiel – ein Spiel mit der Wirklichkeit. Dabei ist grundsätzlich alles erlaubt, was den Reiz dieses Spiels erhöht – selbst das, was das Strafgesetzbuch verbietet. Ein historischer Roman reproduziert darum nicht die historische Geschichte, sondern benutzt sie. Die Wissenschaft liefert die Fakten, der Erzähler erfüllt sie mit Leben und Sinn.
3. Ein historischer Roman handelt nicht von Geschichte, sondern vom Leben.
Große Geschichten aus der Geschichte haben die Menschen schon immer fasziniert. Weil bei allen Veränderungen des Lebens die entscheidenden Antriebskräfte stets dieselben sind: Liebe und Hass, Gier, Neid und Eifersucht, Streben nach Schönheit und Reichtum, nach Ruhm und Macht – all die großen Gefühle und Leidenschaften, zu denen Menschen fähig sind. Aus diesem Grund können wir Jahrtausende alte Dramen nachempfinden und verstehen. Doch das allein macht eine Geschichte aus der Geschichte noch nicht erzählenswert. Entscheidend ist, ob sie für uns heute noch von Bedeutung ist, ob sie uns widerspiegelt in unserem eigenen Selbstverständnis, uns Mut gibt und Lust macht auf das große Abenteuer des eigenen Lebens.
4. Ein historischer Roman ist dramatisiertes Leben.
Das ebenso unerreichte wie unerreichbare Vorbild eines jeden Romanschriftstellers ist der heilige Geist – schließlich hat er das großartigste Drama geschrieben, das sich denken lässt: das Leben selbst. Seine Dramaturgie ist und bleibt das Maß aller Dinge. Allerdings mit einer Einschränkung: Die historische Geschichte gehorcht den Gesetzen der Wirklichkeit bzw. der Geschichtswissenschaft, die Geschichte eines Romans hingegen gehorcht den Gesetzen der Erzählkunst. Um sie dramaturgisch zu gestalten, muss man hier und da die Chronologie der Ereignisse sowie manche Äußerlichkeit im Detail abwandeln. Nicht aus mangelndem Respekt vor den Tatsachen, sondern um einen in sich geschlossenen Erzählkreis zu schaffen und die historischen Ereignisse in einen Sinnzusammenhang zu stellen, der die ihnen innewohnenden Kräfte erfasst und zugleich über die geschichtlichen Gegebenheiten, in die sie eingebunden sind, hinausweist.
5. Ein historischer Roman ist ein realistischer Roman.
Eine gute Geschichte funktioniert wie das Leben selbst. Glaubwürdig ist sie erst dann, wenn ihre Protagonisten nicht nur entsprechend ihrem inneren Wesen fühlen, denken und handeln, sondern auch nach Maßgabe ihrer äußeren Lebenswirklichkeit. Eine Madame Bovary ist keine Lady Macbeth! Das Schicksal meiner Protagonisten vollzieht sich darum nicht im luftleeren Raum, sondern in einer konkreten historischen Situation. Frei erfunden ist ihr individuelles Schicksal, historisch verbürgt jedoch der kollektive Rahmen, in dem sich ihr Schicksal vollzieht. Insofern sind historische Romane so realistisch wie das Leben: Während die Wirklichkeit um uns herum so ist, wie sie ist, sie uns einmal Hoffnung macht und dann wieder Angst, einmal unsere Pläne begünstigt und dann wieder durchkreuzt, erfinden wir uns täglich selbst, werden wir erst im Laufe unseres Lebens, wer und was wir sind – im Wechselspiel von Freiheit und Determination, von Selbst- und Fremdbestimmung, von innerer Vorstellung und äußerer Realität.
6. Ein historischer Roman ist ein Entwicklungsroman.
Die Wirklichkeit stellt uns auf die Probe – nicht nur im Leben, auch im Roman. Dabei gilt die Regel: Je härter die Wirklichkeit einen Charakter bedrängt und ihm zusetzt, desto deutlicher gibt dieser sich zu erkennen. Darum nehme ich die historische Wirklichkeit, in die ich meine Protagonisten werfe, so ernst wie mein eigenes Leben. So wenig wie Gott meine Wirklichkeit verändert, um mir das Leben zu erleichtern, so wenig darf ich die Realitäten zu Gunsten meiner Heldinnen und Helden im Roman verändern – da hilft kein Bitten und kein Flehen. Nur so kann ich erfahren, aus welchem Holz meine Figuren geschnitzt sind, Kapitel für Kapitel. Willkommener Nebeneffekt: Je stärker meine Protagonisten in Bedrängnis geraten, desto größer ist die Aussicht, dass ich meine Leser gut unterhalte. Und darauf haben sie Anspruch! Schließlich zahlen sie nicht nur Geld für mein Buch, sondern investieren für die Lektüre das Wertvollste, was sie besitzen: Lebenszeit.
7. Ein historischer Roman ist ein Seelenspiegel.
Der Stoff für einen historischen Roman liegt buchstäblich auf der Straße – doch warum greift der eine Autor ihn auf, und der andere nicht? Ein historischer Roman ist, wie jeder andere Roman auch, ein Seelenspiegel des Autors. So seltsam es klingen mag: Nur wenn ich die historischen Figuren, die ich beschreibe, in meiner eigenen Seele wieder finde, mit ihren guten und schlechten Seiten, mit ihren Vorzügen und Lastern – nur dann kann ich sie zum Leben erwecken, sie beseelen, sie anfüttern mit ihrer eigenen Wirklichkeit, wie ich sie mir in der Recherche erarbeite. Finde ich meine Protagonisten aber nicht in mir selbst, kann ich mich zu Tode recherchieren – sie bleiben immer nur leblose Gestalten, tote Buchstaben auf Papier.
8. Ein historischer Roman ist ein Gegenwartsroman.
Eine Geschichte berührt uns nur dann, wenn wir uns selbst darin wieder erkennen. Geschichte „an sich“ hingegen lässt uns kalt. Ein historischer Roman ist auch darin wie jeder andere Roman: ein Medium der Selbstverständigung. Indem er von scheinbar fremden Epochen und Kulturen erzählt, vermittelt er uns nicht nur einen Begriff von der Gewordenheit unserer Gegenwart, sondern hält uns zugleich einen Spiegel vor, um abgestorbene Wurzeln unseres kollektiven Denkens und Empfindens zu revitalisieren. Was bedeutet Glück? Was bedeutet Freiheit? Was bedeutet Gerechtigkeit? Indem wir die Irrungen und Wirrungen unserer Vorfahren nacherleben, erwachen verstaubte Lesebuchsentenzen zu neuem Leben. Errungenschaften, für die andere Menschen in gar nicht grauer Vorzeit Kopf und Kragen riskierten, doch an die wir uns im Lauf der Zeit so sehr gewöhnt haben, dass wir sie nicht mehr wahrnehmen, werden wieder sichtbar und spürbar, erlangen neue, existentielle Bedeutung – hier und jetzt. Weil wir sie nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen begreifen.
9. Ein historischer Roman ist kein Abbild, sondern Sinnbild.
Große Geschichten aus der Geschichte – das ist der Stoff, aus dem historische Romane sind. Große Geschichten sind immer dreierlei zugleich: gute Unterhaltung, Begegnungen mit fremden Lebenswelten, sinnbildhafte Schicksalshieroglyphen. Letzteres ist entscheidend. Dabei wächst die große Geschichte über die bloße Wiedergabe der Historie hinaus. Diese erschöpft sich in der Produktion von Abbildern. Große Geschichten hingegen stiften Sinnbilder. Von Menschen, die an die Grenzen des Menschenmöglichen gehen. Um zu erkunden, was Menschsein heißt und heißen kann.
10. Ein historischer Roman ist zuerst und vor allem – ein Roman.
Abgedruckt in: Barbara Korte, Sylvia Paletschek (Hg.): History goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres. transcript Verlag: Bielefeld 2009; Kongressakten des DFG-Symposiums „Historische Wissenschaften in populären Wissenskulturen“ an der Universität Freiburg 2008; S. 61-64.